Zeugnis von Marc Schindler-Bondiguel
Unser Freund Marc Schindler-Bondiguel, Geschichts-und Geografielehrer am Lycée Chateaubriand in Rennes, hat mit seinen Kollegen und 47 Schuelern der Première-Klasse der (binationalen) AbiBac-Sektion an der Uebersetzung der Ausstellung « À contre Courant » teilgenommen.
» Erklären, was geschehen ist, um die Welt von heute besser zu verstehen, und um vielleicht sogar die Welt von morgen besser mitzugestalten. Das ist der Sinn der „Geschichte“. Selten geht es dabei jedoch um das Individuum, um die „kleine Geschichte“. Diese kommt oft nicht vor, zum Beispiel wenn die „große Geschichte“ so unsagbar erdrückend und bedrückend ist wie die Periode des Nationalsozialismus in Deutschland und seiner Herrschaft in Europa. Die Ausstellung „Gegen den Strom“ verbindet die kleine und die große Geschichte auf wundersame Weise. Allgemein und schulisch, wie auch persönlich.
Seit langer Zeit wird der zutreffende Umstand, dass nur wenige Deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet haben, damit erklärt, dass es ein „Widerstand ohne das Volk“ war. Die überwiegende Mehrheit der deutschen Gesellschaft hat zwischen 1933 und 1945 loyal zum NS-System gestanden, darin einen Sinn gefunden, davon profitiert. So unterschiedliche Gruppen wie bekennende Christen, organisierte Arbeiter (ob Sozialdemokraten oder Kommunisten), engagierte humanistische Studenten oder wertkonservative Militärs, die gegen das System opponierten, befanden sich in der Minderheit. Dieser gemeinsam organisierte, politische Widerstand, der die Beseitigung des Unrechtssystems und die Beendigung des Krieges zum Ziel hatte, sollte wenig Erfolgschancen haben angesichts eines äußerst effizienten Dispositivs der Repression und Verfolgung. Menschen in Deutschland, die in dieser Zeit nicht mit dem politischen und sozialen Geschehen einverstanden waren, blieben auf sich selbst zurückgeworfen, alleine. Oft, wie in einer menschenarmen Wüste, blieben ihnen als Individuen „nur“ ihr Gewissen, ihr Menschsein, ihre grundsätzlichen Werte. Keine Vergewisserung durch Andere, keine Möglichkeit, ihrer Empörung und ihrer Opposition öffentlich und gemeinsam mit anderen Menschen Ausdruck zu verleihen. Jede individuelle Äußerung einer Resistenz konnte das Schlimmste bedeuten.
Die Menschen, die verfolgten Juden Schutz boten und versuchten, deren Leben zu retten, handelten aus vielen, individuell unterschiedlichen Gründen: aus Gewissensfragen, aus christlicher Nächstenliebe, aus Freundschaft, aus ideologischer Überzeugung, aus Liebe, aus Loyalität…. Die Ausstellung „Gegen den Strom“ zeigt Geschichten von Menschen „wie Du und Ich“, die eine universelle Aussage und dadurch einen unschätzbaren Wert haben. Wie verhält sich der Mensch, wenn er mit Unrecht, mit dem Unerträglichen konfrontiert ist? Wieviel Mut braucht es? Was hält ihn davon ab? Was ist eigentlich menschlich, wo liegen die Grenzen der Menschlichkeit?
Als das Projekt „Gegen den Strom“ an uns herangetragen wurde, hat mich diese zutiefst menschliche Dimension der Ausstellung sofort angesprochen. Zusammen mit meinen Kollegen waren wir uns schnell und intuitiv einig, dass in ihr ein großer Lern- und Erkenntnisgewinn für unsere Schüler und für uns Selbst liegen könnte, der weit über das reine Geschichtswissen hinausgeht.
Dieses Projekt erweitert unseren allgemeinen wie auch persönlichen Blick in die Geschichte. Es zeigt, welche oppositionellen Handlungsmöglichkeiten ganz normale Menschen in der deutschen Gesellschaft zwischen 1933 und 1945 hatten. Und eben diese Frage stellt sich in Deutschland in vielen Familien. Es ist der Ort, an dem die kleine auf die große Geschichte trifft.
In deutschen Familien weiß man oft nicht, inwiefern Groß- und Urgroßeltern dem NS-Regime zugestimmt haben und ob sie aktive Täter waren. Die erste und vor allem die zweite Generation der nach dem Krieg Geborenen kennen häufig Geschichten von Opas und Uropas, die gute Menschen gewesen sind und den Kindern in Russland und in Frankreich Schokolode geschenkt haben. Einmal nachgefragt war die Antwort oft: Wir haben von alledem Nichts gewusst. Mulmig, unangenehm oder peinlich konnte es aber dennoch werden, wenn es vorkam, dass die mitunter liebevollen Großeltern verächtlich von dem einen oder anderen „dreckigen Juden“ im Ort sprachen. Kinder haben ein besonderes Gespür für solche (emotionalen) Widersprüche. Andere Männer der Familie nutzten Geburtstage, um den Kindern im Spielzimmer von ihren virilen (und oft sadistischen) Kriegsgeschichten zu berichten. Dies passierte im Kinderzimmer, denn in Deutschland nach 1968 war es unmöglich geworden, diese „Heldentaten“ öffentlich oder gar im Kreise der versammelten Erwachsenen kund zu tun. Private Nachforschungen konnten ergeben, dass Urgroßväter keine normalen Soldaten waren, sondern in der Totenkopfdivision der Waffen-SS ihren Dienst versahen. Ist es möglich, dass diese Männer gute Menschen waren und den Kindern Schokolade geschenkt haben? Lokale „Geschichtswerkstätten“ (eine zivilgesellschaftliche Bewegung der 1980ger Jahre zur Förderung der Alltagsgeschichte oder auch „Geschichte von unten“, in der Historiker, Studenten und Laien zusammen die lokale Geschichte erforschten) gelang es, ein klares Bild zu zeichnen: Juden wurden in der Regel öffentlich vom Marktplatz und vom Bahnhof aus in Konzentrationslager deportiert. Hatten die Großeltern wirklich nichts gesehen und nichts gewusst? Handelte es sich also um Verdrängung, Selbstschutz oder gar Vertuschung? Manchmal gab es, wenn auch selten, Dissonanzen. Hakte man nach, dann konnte es einen Bruder der Urgroßmutter geben, der schon vor dem Krieg viel Mut bewiesen hat und im Krieg mit allen Mitteln versuchte, ein aufrechter Mensch zu bleiben….
Als „rein“ deutsche Geschichte zeigt die Verstrickung der kleinen mit der großen Geschichte zweierlei. Sie zeigt erstens, dass wir oft nicht in der Lage sind, über die individuelle Verstrickung der Einzelnen zu urteilen. Es ist schwer, gar unmöglich auf Fragen wie „Wie hätten wir uns in einer solchen Situation verhalten, wieviel hätten wir gewusst, was hätten wir gemacht?“ eine Antwort zu finden.
Sie zeigt zweitens, und in diesem Punkt gibt es eine Gemeinsamkeit mit der Ausstellung „Gegen den Strom“, dass die Menschen in einem „totalen“ Unrechtssystem und im Krieg wahrscheinlich mehr als einmal mit Situationen konfrontiert waren, in denen sie sich für oder gegen Etwas entscheiden mussten. Was sagt mir mein Gewissen? Ist das was geschieht, ist das was ich sehe, mit meinem Gewissen vereinbar? Welche Werte habe ich?
In der Ausstellung „Gegen den Strom“ finden wir viele Beispiele dafür: Die Geschichten der Menschen, die verfolgten Juden Schutz boten und versuchten, deren Leben zu retten, zeigen, dass mutige Menschen eine ganz individuelle Verantwortung für sich und andere übernommen haben. Und dies oft ganz still. Sie sind einmal als „stille Helden“ bezeichnet worden.
Die Ausstellung „Gegen den Strom“ zeigt, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus für Deutschland und für die Deutschen keine Frage der Schuld sein können, sondern eine Frage der Verantwortung sind.
Ich hoffe, dass dieses Projekt einen kleinen Teil dazu beitragen kann, dass Menschen, insbesondere der jungen Generation, sich verantwortlich fühlen und verantwortlich handeln. Vor der Geschichte, im Heute und in der Zukunft. »
Marc Schindler-Bondiguel